Die Welt der ’Enana
Auf dem heißen, von Stechmücken verseuchten Strand von Ha‘atuatua auf der Insel Nuku Hiva entdeckte 1957 der amerikanische Archäologe Robert C. Suggs eine Fundstätte: ein Dorf mit Kultplatz und Friedhof. Dort stieß er auf Tonscherben, die sich auf 125 v. Chr. datieren ließen und zur gleichen Gruppe gehörten, die man auf Fiji, anderen westpolynesischen Inseln und in Melanesien gefunden hatte. Aufgrund dieser Entdeckungen stand für Robert C. Suggs fest, dass die Marquesas-Inseln vom Westen her besiedelt wurden und dass die Einwanderer, die sich enana nannten, zum letzten Zweig der Lapita-Seefahrer gehörten …
Henua‘enana, das „Land der Männer“, wie ihre Heimat noch heute von den Marquesanern genannt wird, war entdeckt. Einige der Nomaden des Windes blieben und wurden heimisch, andere zog es wieder aufs Meer hinaus, hin zu noch ferneren Inseln. Sie besiedelten schließlich auch die Außenposten des riesigen polynesischen Dreiecks: die Osterinsel, die Inseln Hawai‘is und nach einer langen Reise auch Neuseeland. Die Bevölkerung vermehrte sich rasch, so dass die Menschen von den Stränden in die Seitentäler ausweichen mussten, wo sie neue Stämme gründeten. Jedem Stamm stand ein haka‘iki, ein Häuptling, vor, der aufgrund seiner Genealogie gewählt wurde, die oft mehr als einhundert Generationen zurückreichte …
Die Gestalten der Urahnen sind in henua‘enana in menschlicher Form als tiki dargestellt. Das erste tiki war nach der Mythologie ein Gott, der mit einem Sandhaufen kopulierte, wodurch der erste Mensch erschaffen wurde. Deshalb ist ein tiki gleichzeitig auch das Abbild des „Urphallus“. Darüber hinaus drückt eine tiki-Figur zu gleichen Teilen die Darstellung des Schöpfers der Menschheit wie die eines Menschenopfers aus. Bezeichnend dafür sind die riesigen, halbgeschlossenen Augen, der Mund mit der hervorquellenden Zunge, der geschwollene Bauch und die angezogenen Arme und Beine. Das Menschenopfer wurde Etua, der höchsten Gottheit dargebracht, um die Fruchtbarkeit des Stammes zu sichern. In früheren Zeiten waren tiki im Alltagsleben der Bevölkerung allgegenwärtig. Sie wurden auf die Haut tatauiert, stützten als Hauspfosten die Satteldächer, verzierten die koka‘a (Holzschüsseln), aus denen der Brotfruchtbrei gegessen wurde, wie auch die Keulen der Krieger, die Paddel der Fischer, die Stelzentritte der Wettkämpfer und die Haushaltsgeräte der Frauen. Sie verschönten die kunstvoll geschnitzten Griffe der Fächer und zierten als winzige Miniaturen Hals und Ohren …
Als die Austronesier von ihrer Heimat an der asiatischen Küste aufbrachen, um neue Welten zu entdecken, gehörte die Tatauierung zu ihrer Kultur. Wo immer ihre Nachkommen heute angetroffen werden – in Indonesien, Malaysia, auf den Philippinen, in Mikronesien, Melanesien und Polynesien – ist sie als Teil der Kultur erhalten geblieben. Es ist anzunehmen, dass zwischen den verschiedenen Regionen des Pazifiks zu Anfang noch eine kulturelle Verbundenheit bestand, die sowohl in der Kunst wie auch in Sprache, Religion und Brauchtum zum Ausdruck kam. Im Laufe der Jahrtausende dürften diese Kontakte erlahmt sein und es blieb nicht aus, dass sich durch das isolierte Leben auch die Kunst differenziert weiterentwickelte. So dürften die unterschiedlichen Formen der Tatauierung, die bei keinem Volk eine derartige Perfektion erreichte wie bei den enana, entstanden sein …
Die enana lebten in völliger Isolation. Die fruchtbaren Täler waren so dicht besiedelt, dass das Land immer knapper wurde, was die Zunahme von Aggressionen unter den Stämmen förderte. Landnahme, Grenzverletzungen oder auch nur die Bemerkung eines Häuptlings, die Spuren von Verachtung enthielt, reichten aus, einen Kriegszug auszulösen. Existenzbedrohend zu verändern begann sich das Leben auf den Inseln aber erst ab dem Jahr 1595 – nach der Entdeckung der südöstlichen Inseln (Tahuata, Hiva Oa, Fatu Iva) durch den Spanier Don Alvaro de Mendaña. Als die Spanier am 5. August Tahuata verließen – nicht bevor sie ein Blutbad unter den Einheimischen angerichtet hatten – schenkte Mendaña seinem Freund, dem Vizekönig von Peru namens Marqués de Cañete Don Andres Garcia de Hurtado de Mendoza, den entdeckten Archipel, was zum komplizierten „Las Islas Marquesas de Mendoza y Cañete“ oder „Die Marquesas“ führte. Leider blieb dieser unglückliche Name bis heute als offizielle Bezeichnung erhalten, wogegen in der Bevölkerung das traditionelle henua‘enana (Land der Männer) oder einfach nur enana (Männer) weiterlebt, das aus der austronesischen Urkultur stammt …
Von 1804 bis 1813 erlebte die Insel Nuku Hiva eine der schlimmsten Dürreperioden aller Zeiten. Diese führte zu katastrophalen Hungersnöten, in deren Folge es zu besonders grausamen kannibalistischen Jagden kam. Als der amerikanische Kapitän David Porter 1813 mit der Fregatte „Essex“ und einer Flotille von englischen Prisen in der Bucht von Taioha‘e einlief, beherrschte dieser Fehdezustand immer noch die Täler. Zu den Verdiensten Porters zählte nicht nur, dass er zusammen mit den Häuptlingen der verfeindeten Stämme die Kriegszüge beendete, sondern auch die erste Volkszählung auf Nuku Hiva durchführen ließ. Sie ergab 19.200 Krieger, was die Schlussfolgerung zulässt, dass Anfang des 19. Jahrhunderts ungefähr 35.000 Menschen auf Nuku Hiva lebten. Aufgrund dieser Zahlen errechnete Robert C. Suggs eine Gesamtbevölkerung von 100.000 Menschen. Heute geht man sogar davon aus, dass es 120.000 waren …
1838 brachte der französische Admiral Abel Dupetit-Thouars neben dem Militär auch die ersten katholischen Missionare nach Vaitahu auf der Insel Tahuata. Weil sich die Missionare mehr vor der Gewaltherrschaft der Deserteure von den Walfängerflotten als vor den „Wilden“ fürchteten, nahmen sie gerne den angebotenen Schutz der Franzosen an, unter den sich auch die Inselbewohner stellten. Die Soldaten schienen das kleinere Übel zu sein. Allerdings dauerte es nicht lange, bis die Stammeshäuptlinge erkannten, dass man den Teufel mit dem Belzebub ausgetrieben hatte. Denn in Folge verboten die katholischen Missionare mit Zustimmung der Franzosen alles, was nicht der katholischen Glaubensnorm entsprach. Bei Admiral Abel Dupetit-Thouars’ zweitem Besuch wurde die Besitzergreifung des Archipels, im Namen des Königs Louis Philippe von Frankreich, am 1. Mai 1842 offiziell vollzogen.
Zur gleichen Zeit, am 9. Juli 1842, desertierte Herman Melville mit seinem Freund Toby von Bord des „Whalers“ Acushnet. Er flüchtete ins Taipi-Tal und lebte dort etwa drei Wochen. Über seine Flucht und seine Zeit bei den taipi schrieb er seinen weltberühmten Roman „Typee“ …
Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert verkam henua‘enana immer mehr zu einem einsamen, verlassenen Außenposten des französischen Kolonialreichs. Jack London, der 1907 die Inseln besuchte, beschrieb mit lyrischen Worten deren eindrücklichen Zauber, ließ aber die von Lepra und Tuberkulose verseuchten Täler, wo fast jedermann an einer der beiden Krankheiten litt, nicht unerwähnt. Die Handelsschiffe, die die Inseln regelmäßig angelaufen hatten, kamen längst nicht mehr. Es waren nur noch kleine Kopraschoner, die den Kontakt zur Außenwelt aufrechterhielten. Da die Ernte zu gering und die Not in den kleinen Siedlungen zu groß war, konnten die Handelsgesellschaften keine Geschäfte mehr tätigen. Ein französischer Verwalter ließ sich sogar zu der Ankündigung hinreißen, dass die auf 1.500 zusammengeschrumpfte Bevölkerung gänzlich aussterben würde …
1901 entschloss sich ein weiterer Europäer henua‘enana aufzusuchen. Es war der französische Maler Paul Gauguin, der plötzlich „ein Wilder unter Wilden“ sein wollte. Aber es waren wohl eher Geldmangel und ein großes Maß an Lebensüberdruss, die ihn zum Wegzug von Tahiti bewogen. Letztendlich tauschte er lediglich das bürgerliche Pape‘ete gegen das genauso bürgerliche Atuona auf Hiva Oa aus, wo die katholische Kirche in Zusammenarbeit mit der Kolonialverwaltung ein besonders strenges Regime führte. Zu Anfang gebärdete sich Gauguin sogar als Bewunderer beider Institutionen, aber nur solange, bis man ihm ein Haus zur Verfügung gestellt hatte. Danach wollte er das sein, was er immer am liebsten gewesen war: „der König des Tages“. Er provozierte, wie und wo immer es ging, und befand sich deshalb bald im unversöhnlichen Streit mit Kirche und Staat. Die Einheimischen dagegen hielten „Koke“, wie sie ihn nannten, nur für einen von vielen anderen verrückten Weißen …
Der Völkerkundler Karl von den Steinen (Auszüge aus den privaten Briefen an seine Frau Eleonore, Berlin)
1897 brach Karl von den Steinen zu seiner Reise auf, die ihn über Kanada, San Francisco und von da aus in 20 Tagen mit dem Segelschiff „City of Pape‘ete“ nach Nuku Hiva zu den „letzten Wilden“ brachte, bei denen er ein halbes Jahr verweilte. Er war, wie er selbst bemerkte, leider ein halbes Jahrhundert zu spät gekommen, denn bei seiner Ankunft versanken die Traditionen und Mythologien bereits in der Dunkelheit des Vergessens. Die Schätze der alten Kultur waren längst entführt, so dass ihm nur die Nachlese blieb, um derentwillen er alle sechs bewohnten Inseln aufsuchte …
In Uapou war ich glücklich, weil es keine Nonos gab. Man konnte das Bad im Bach genießen und ruhig schreiben oder zeichnen. Ich bin um die Insel herumgegangen und habe so ziemlich alle Einwohner, jedenfalls jeden bewohnten Ort und manches verlassene Tal gesehen. Ich erlebe nicht viel, alles geht regelmäßig am Schnürchen. Vor allem suchte ich Geschichten zu bekommen. Ich schreibe alles nieder, auch wenn ich es nicht verstehe. Die Geschichten sind zum Teil stark gepfeffert. Der Spaß ist natürlich groß wenn ich laut wiederhole, was mir vorgesagt wird und alles lacht, einschließlich der Nachbarn in den umliegenden Häusern, die alles hören. In den kleinen Nestern gefiel es mir sehr gut, namentlich in Hakatao in einer Hütte am Strand bei guten Leuten, die ein Schweinchen schlachteten und mir bis in die späte Nacht tekao atua „Göttersagen“ erzählten …
Eines der kostbarsten Stücke der Sammlung, das ich in Atuona erstehen konnte, ist eine kunstvoll geschnitzte Schildpatt-Angel mit drei Figuren, deren eine Maui darstellt. Reste menschlichen Haars sitzen in der Umflechtung. Ich musste Himmel und Hölle in Bewegung setzen, sogar die Hilfe des Bischofs gegen den zähen Widerstand der Häuptlingsfamilie in Anspruch nehmen, damit mir dieses Unikum verkauft wurde. Die zweifellos uralte Angel galt in allem Ernst als die echte Angel Maui’s, mit der er die Insel Tongarewa aus den Tiefen des Meeres gefischt hatte, und das anhaftende Haar als das des Sonnengottes, das Maui abschnitt, nachdem er ihm die Schlinge über den Hals geworfen hatte. In diesem Falle konnte ich die Leute glücklicherweise mit ihrer eigenen Tradition widerlegen, die besagt, daß Maui seine Angel gegen das Firmament geschleudert habe, wo sie das Sternbild des Skorpions geworden sei. So vermochte ich den Glauben an die Reliquie zu erschüttern und ihren Verkauf erreichen …
Ich selbst hatte auch viel Vergnügen, da ich das „Pièce de Résistance“ der Sammlung jetzt glücklich an Bord der „Ruth“ weiß, einen sehr merkwürdigen, dicken Götterkopf von der heiligen Tempelanlage von Puamau. Eine schöne Fratze: 1 m breit unten, ca. 82 cm hoch und etwa 400 kg schwer. Es ist äußerst schwer, sogenannte Steintiki zu erhalten. Sie sind selten und schwer zugänglich. Sie befinden sich landeinwärts im Dickicht und werden von den Eingeborenen teils verheimlicht, teils direkt vergraben und versteckt. Von kleinen Nippfiguren habe ich eine ganze Anzahl. Richtige kleine, nette Götzen, aber ich wollte um alles gerne eine große Figur haben. Sie sind auch schwer transportabel. Die merkwürdigsten befinden sich hier in Puamau.
Da liegt vor allem eine 2 m lange Steinfigur, die eine gebärende Frau darstellt, den Kopf tief auf den Rücken gebogen und an ihrem Leib ein sehr ungeschlachtes Kind, eigentlich ein großer Steinwürfel mit eingeschnittenen Umrissen. Vierzehn Mann trugen den Kopf neulich hinunter zur Bucht. Heute wurde aus trockenen Brotfruchtbaumstämmen, die leicht sind, ein kleines Floß gebaut. 2 Balken, je 5 ½ m lang, wurden an die 8 Balken, 4 ½ m lang, quer mit Rindenbast angeschnürt. Bei ausgehender Flut gelang es, das Floß mit dem darauf geschnallten Tiki ins Wasser zu schieben und heidi schwammen 8 Kerls nebenher, hin zu der über einen Kilometer entfernten „Ruth“. Es sah toll aus, wie sie mit dem vorragenden Steinhaupt in den Wogen auf und nieder tauchten. Ohne Kekelas und seines Sohnes Samuels Hilfe wäre es mir nicht möglich gewesen, die große ornamentierte Steinkopfskulptur des Manuiota’a, das kostbarste Stück, das von den Marquesas nach Europa gelangt ist, zu erwerben und an Bord zu schaffen …
Der Archäologe Robert C. Suggs (Tagebuchnotizen)
Während seines Aufenthaltes, 1956 bis 1958, durchstreifte Robert C. Suggs fünf der sechs bewohnten Inseln, konzentrierte sich aber hauptsächlich auf Nuku Hiva, wo er mehr als 50 Fundstätten untersucht und 15 archäologische Ausgrabungen durchgeführt hat, ergänzt durch ethnografische Forschungen. Sein Team bestand aus eigenwilligen, aber zugleich kundigen enanas, die ihm wertvolle Tipps und Hinweise gaben. Diese bezogen sich sowohl auf Dünen an gänzlich unbewohnten Stränden, wie auf ausgetrocknete Guano-Höhlen, in denen seltene Gebrauchsgegenstände der alten Kultur nahezu unversehrt geborgen werden konnten. Die von undurchdringlichem Tropenwald überwucherten Haine gaben hingegen nur ungern die kolossalen Steinplattformen preis, auf denen einst die Stamm- und Kultplätze der Ureinwohner standen …
Zehn Tage auf dem Schoner „Vaitere“ waren mehr als genug und deshalb kam meine Freude aus ehrlichem Herzen, als wir am frühen Morgen in der Bucht von Taioha‘e, dem Hauptort der Insel Nuku Hiva, einliefen und ich endlich an Land gehen konnte. David Porter hatte diese Bucht einst als die schönste der Welt beschrieben und ich konnte ihm dafür nur Beifall zollen. Mein erster Weg sollte zu einem Engländer namens Bob McKittrick führen, der seit vielen Jahren hier lebte. Diese Referenz hatte mir Shapiro mit auf den Weg gegeben, der den legendären Engländer bereits 1929 getroffen hatte, aber Zweifel hegte, ob er noch am Leben sei. In Tahiti erfuhr ich, dass sich Bob McKittrick nach wie vor des Lebens erfreue und man ihm gerne meine Ankunft mitteilen würde. Das war dann auch geschehen, denn schon nach kurzer Zeit brauste ein alter, verbeulter Ford heran. Ob ich der amerikanische Archäologe „Sachs“ sei, fragte mich der etwas unsicher dreinschauende Fahrer. Ich bestätigte dies mit einem Schmunzeln, denn ich konnte mir vorstellen, dass man sich unter einem Archäologen eher einen seriösen Herrn mit Tropenhelm, Nickelbrille und sandfarbenem Leinenanzug vorgestellt hatte, als einen sorglosen 24-jährigen mit Siebentagebart …
Eines Abends machte ich, nachdem ich mir auf Geheiß meiner energischen Haushälterin Ihani den Schweiß abgeduscht und die Barthaare rasiert hatte, einem interessanten Nachbarn im Hinterhof die längst fällige Aufwartung. Sie galt Taniha Taupotini, dem Adoptivsohn „Königin“ Vaekehus. Er war ein Mann von 75 Jahren, der zwei Meter maß und zweieinhalb Zentner wog. Taniha war nicht nur belesen, er erwies sich auch als „Goldmine“ an Informationen über die vergangene Kultur, die in den Genealogien seiner von Stammesfehden und Epidemien nahezu verschont gebliebenen Familie von Generation zu Generation weitergegeben worden waren. Weil es überall auf der Insel an Schreibmaterial mangelte, versorgte ich Taniha regelmäßig damit. Dafür schrieb er mir in seiner fließenden, akkuraten Handschrift die Legenden und Gesänge seiner Familie auf. Diese Aufzeichnungen gehören zu den größten Schätzen meiner marquesanischen Sammlung, zu der auch die Legende von Akaui, Pa‘etini und dem berühmten Schwein Makaaianui zählt …
Wegen des bevorstehenden französischen Nationalfeiertags am 14. Juli mussten wir für einige Tage unsere Arbeit unterbrechen, weil die enana während dieser Zeit mit allerlei Vorbereitungen beschäftigt waren. Dazu zählte auch das Einstudieren von Gesängen und Tänzen, allen voran der Männertanz maha‘u, der das Hausschwein verherrlicht. Die dumpfen Trommelklänge und das täuschend nachgemachte Grunzen der Schweine erfüllten ganz Taioha‘e. Der maha’ u war der einzige Tanz aus der alten Kultur, der vom Bannstrahl der Missionare verschont geblieben war. Dafür standen die Tänze der Frauen allesamt noch auf dem Missions-Index, so dass diesen nur der aus Tahiti importierte tapiriata blieb. Sie tanzten ihn in den traditionellen Grasschürzen und chinesischen BHs, die es beim Bäcker/Krämer Wong in einer Einheitsgröße und -farbe (olive-beige) zu kaufen gab. Ungewollt sorgten diese weiblichen Accessoires für anhaltende Heiterkeit, weil sie die üppig prallen marquesanischen Brüste nicht daran hinderten, ständig aus der knappen chinesischen Maßeinheit herauszuhüpfen. Dies hatte zur Folge, dass das Training immer wieder unterbrochen werden musste, bis alles wieder seinen Platz gefunden hatte. Der Andrang der männlichen Zuschauer war riesig. Am Festtag selbst herrschte überall geschäftiges Treiben. Wo immer Platz war, saßen musizierende Gruppen beisammen oder die einstudierten Tänze wurden zum Besten gegeben. Dazwischen flanierte die uniformierte, ordensgeschmückte französische Obrigkeit, nachdem sie die Trikolore am Strand gehisst und die Marseillaise salutierend gesungen hatte. Der Stolz, wie gut die Umerziehung der Wilden zur französischen Vaterlandsliebe gelungen war, sprach unverhohlen aus den selbstzufriedenen Gesichtern, nicht zuletzt, weil der marquesanische Singsang im feierlichsten Ernst vorgetragen wurde. So kam keiner der Inselherren auf die Idee, dass er mit Obszönitäten, Hohn und Spott gegenüber der Staatsgewalt gespickt war, womit die Ambivalenz gegenüber dem französischen Nationalfeiertag gewahrt blieb …
Meine archäologischen Arbeiten begannen mit Ausgrabungen auf der Fundstätte Vahangeku‘a, die mit ihren imposanten Ausmaßen – 174 Meter lang, 30 Meter breit und 3 Meter hoch – zu den mächtigsten Anlagen des Archipels zählte. Sie war im „megalithischen“ Stil konstruiert und besaß eine Vielzahl an Steinplattformen, Tanz- und Festplätzen, die auf Terrassen angelegt waren. Dazu kamen mehrere Brotfrucht-Lagergruben, einige von ihnen mit beachtlichem Fassungsvermögen. Zu den verschiedenen Gebäudegruppen gehörte auch eine tu‘u-Plattform, auf der Menschenopfer dargebracht wurden. Dieser Kultplatz war dem Urahn Tamatuia gewidmet. Den Mythen zufolge hatte dort auch ein berühmter Krieger namens Hoki‘ae gewohnt. Bei unseren Grabungen auf den Festplätzen und in den Hausplattformen entdeckten wir drei Bauperioden, die entsprechende kulturelle Wechsel sichtbar machten. Die Datierung der ersten wies auf die Zeit um 1200 n. Chr., die der zweiten auf ca. 1500 n. Chr. hin. Speziell diese Zeit war geprägt von geschäftigem Leben und intensiver Bautätigkeit, was eine Straße bewies, auf der die Steinbrocken für die Plattformen entlang gezogen worden waren. Diese Straße war außergewöhnlich. Nirgendwo anders wurde Vergleichbares entdeckt. Die Datierung der letzten Bauperiode fiel auf die Jahre um 1800 n. Chr., also auf eine Zeit schon lange nach Ankunft der ersten Weißen. Dies bestätigten auch die Reste einer christlichen Kapelle am Rand einer Tanzfläche. Dagegen fanden wir nur wenige Artefakte, darunter ein kleines tiki und den Griff eines poi-Stößels mit der üblichen tiki-Verzierung. Aber auch der Abfall der ersten Fremden kam zum Vorschein. Heute ist die Fundstätte dicht überwachsen. Nur noch die mächtigen, moosbewachsenen Quadersteine zeugen bedingt vom einst regen Leben in diesem Tal˚…
Ich konnte es wahrlich nicht glauben und zweifelte in der Tat an meinem Wahrnehmungsvermögen. Hier auf Nuku Hiva eine Tonscherbe in den Händen zu halten, wo doch jedermann, der über Ostpolynesien etwas zu wissen glaubte, steif und fest behauptete, dass Tonwaren in diesem Teil des Pazifiks völlig unbekannt gewesen seien? Immer wieder untersuchte ich das Bruchstück. Zweifellos stammte es vom Rand einer kompakten Schüssel. Die Verzierung mit einer schmalen Fuge war immer noch gut zu erkennen. Weitere Fragmente folgten und am Ende war ich im Besitz von fünf Tonscherben. Dass diese zu keinem Zufallsprodukt gehörten, bestätigten dann Grabungen an einem völlig anderen Platz, wo wir ebenfalls fündig wurden. Damit war für mich bewiesen, dass in henua‘enana Tonwaren sehr wohl bekannt gewesen sein mussten. Aber wer hatte sie eingeführt und woher waren die Menschen gekommen? Ich wusste, dass die endgültige Klärung dieser Fragen viel Zeit in Anspruch nehmen würde, aber für mich standen die Tatsachen bereits am heißen Strand von Ha‘atuatua fest: die Inseln mussten vom Westen her besiedelt worden sein, wo Tongefäße zu den Alltagsgegenständen zählten. Mir war klar, dass Beweise nötig waren, um diese Behauptung zu stützen, aber der erste Schritt war getan. Meine Freude war unbeschreiblich. Ich hätte die ganze Welt umarmen können – mitsamt den Nonos …
Streifzüge durch die Gegenwart
(Burgl Lichtenstein)
Ich kann mich nicht erinnern, jemals gelassen auf Nuku Hiva gelandet zu sein. Jedes Mal, wenn die Konturen der Insel zum Greifen nahe sind, geraten bei mir Herz und Gemüt in Aufruhr. Erregung und Glücksgefühle überschlagen sich. Und so ist es auch dieses Mal. Als Wermutstropfen gilt lediglich das regnerische Wetter in Nuku Ataha, denn so wird die Fahrt vom Flughafen nach Taioha‘e einmal mehr im Nebel verlaufen. Aber meine Bedenken werden vom wartenden Robert C. Suggs zerstreut, der mich freudestrahlend begrüsst und mir für die andere Seite der Insel Südseewetter aus dem Bilderbuch verspricht. In seiner Begleitung befindet sich Jean-Claude, einer der besten Chauffeure Taioha‘es. Er wird mit Vorliebe für die Fahrt zum Flugplatz engagiert, denn niemand kennt sich mit den Tücken der abenteuerlichen Straße besser aus als er. Obwohl die Regengüsse der letzten Tage diese an vielen Stellen noch mehr ausgewaschen haben, sitzt Jean-Claude wie immer gelassen hinter dem Steuer, im Gegensatz zum Archäologen, der bei einer brenzligen Stelle böse vor sich hin grummelt, dass die Bauarbeiter wohl lieber mit dem Sprengstoff hantiert hätten, als die Straße sicher auszubauen. Mich lässt dies unberührt, denn die Freude, wieder hier zu sein, überwiegt …
Inzwischen hat Yvonne, wie Ku‘a eine klassische vehine ‘enana, vor dem Archäologen einige Kunstgegenstände aufgebaut, die dieser auf ihre Echtheit prüfen soll. Daraus entwickelt sich ein langes Hin und Her unter den Anwesenden, was mir die Gelegenheit gibt, auf eigene Faust loszuziehen.
Schon längst wollte ich die Petroglyphengalerie von Te I‘ipoka (Hatiheu Nuku Hiva) in Ruhe betrachten. Die Straße dorthin ist für Geländewagen ausgebaut, was auch hier zu Lasten der Natur geschah. Aber weil ich weit und breit die einzige Spaziergängerin bin, kann ich dennoch ungestört die Ruhe und Schönheit des Tals genießen, das einst vom berühmten ati papua-Stamm bevölkert war, der bemerkenswerte Fundstätten hinterlassen hat – wie den Stammplatz Hikoku‘a, die Kultstätte Te I‘ipoka und den zeremoniellen Festplatz Kamuihei. Das alles lasse ich heute unbeachtet und suche eine Abkürzung, die allerdings in unwegsames Gelände führt, das von riesigen Steinquadern versperrt wird und mir kleine Kletterkünste abverlangt. In der tiefen, dunklen Stille mächtiger, uralter Bäume, deren oberste Äste die Wolken zu kitzeln scheinen, stoße ich auf die mit Tiergravuren bedeckten Felsblöcke. Bei deren Interpretation gehen die Meinungen auseinander: für die einen sind sie die Chronik der Menschenopfer, andere sehen in ihnen die Schutzgeister des Stammes. Wer auch Recht haben mag, ich fühle mich wohl bei diesen Zeugen einer längst vergangenen Kultur, die so oder so eine Huldigung verdienen. Ich habe überhaupt das Gefühl, auf einer Zeitreise in die Vergangenheit zu sein, denn unter den alten Banyanbäumen des me‘ae Te I‘ipoka hatte einst auch Karl von den Steinen Rast gemacht, umrahmt von den gleichen Bäumen, unter demselben Himmel und mit der unveränderten Silhouette der Felsspitzen im Vordergrund. Erst als ich in das Innere eines wurzelverschlungenen Banyanbaumes vordringe und statt auf Menschenschädel auf die Überreste von Elektrokabeln stoße, mit denen Te I‘ipoka während eines Fests illuminiert wurde, holt mich die Gegenwart wieder ein …
Weil heute Abend noch ein Schiff mit Passagieren in der Bucht von Hakahetau (Ua Pou) eintrifft, beginnen Frauen und Männer ihre Marktstände aufzubauen, denn das Geld der Touristen ist eine hochwillkommene Aufstockung der schmalen Haushaltskassen. Einen dieser Stände besitzt die Frau von Benjamin (Piri) Tutoua, der in einem bunt bedruckten pareu steckt, über den sich – einer Bowlingkugel gleich – der braune Bauch wölbt. Benjamin, ein Adoptivsohn des legendären Bob McKittrick aus Taioha‘e, und der Archäologe kennen sich seit 1956. Beide freuen sich über das Zusammentreffen und verlieren sich lange Zeit in gemeinsamen Erinnerungen. Danach braust der fröhlich winkende Benjamin in seinem Geländewagen davon, was bei seiner Frau zu derart heftigen Unmutsäußerungen und Gesten führt, dass meine keuschen Empfindungen etwas durcheinander geraten. Nachdem sie sich wieder beruhigt hat, gesteht die Frau dem mitfühlenden Ropea, dass ihr lieber Benjamin, der ja sonst ein pfundiger Kerl sei, das Arbeiten halt nicht erfunden habe und dass sein Mundwerk eben besser funktioniere als seine Arbeitskraft. Deshalb bleibe es ihr überlassen, den Lebensunterhalt für die Familie mit dem Verkauf von selbst geflochtenen Palmhüten und Taschen, getrockneten Bananen und Blumensteinen ke‘a pua zu verdienen. Jean-Marc, ein junger enana, beobachtet lächelnd die Szene. Er repräsentiert „die Moderne“, trägt zu quittengelben Bermudas ein schwarzes Nike-T-Shirt und hat blond gefärbte Rastalocken, die von einem bunten Kopftuch zusammengehalten werden. Von was er lebe und was er arbeite, frage ich ihn. Mit Kopra, meint er, ist es so gut wie vorbei, dafür sind es jetzt die Nonifrüchte, die einen kleinen Verdienst bringen, auch der Fischfang oder das Be- und Entladen der Frachtschiffe. Aber am liebsten verbringe er mit seinen Freunden die Zeit am Strand, liebe das Ukulele-Spielen, den Gesang und rauche gern Marihuana. Ob ihn das zufrieden stimme? Er kenne nichts anderes und später werde die Frau für ihn arbeiten …
Der steile Trampelpfad, der durch einen dichten Palmenwald zur Kultstätte Meiaiaute – oberhalb Hanes (Ua Huka) – führt, endet überraschend an Betonstufen. Und was das Auge dann zu sehen bekommt, mag es fast nicht glauben. Der vor zwei Jahren noch lauschige mit Gras und kurzem Gebüsch bewachsene Platz, wo die tiki geruhsam ihre vier Plattformen bewachten, ist zu einem Sandplatz geworden, auf dem die Skulpturen ramponierten Grabsteinen gleichen. „Musste dieser Eingriff sein?“, stöhne ich ein ums andere Mal und meine damit den gerodeten Platz. „Man erkennt dadurch die vier kleinen Plattformen mit den tiki besser und die Touristen können bequemer herumstehen“, hält der Archäologe dagegen. Darauf gibt es nicht mehr viel zu sagen, was vielleicht auch das tiki denkt, das einen besonderen Rang unter seinen Mitbewohnern einnimmt. Es ist größer als die anderen, aber kleiner als jene auf Nuku Hiva oder Hiva Oa und trägt Tatauierungsmotive auf den Wangen. Für mich ist es mit seinem Schmollmund, den abstehenden Ohren und den weißen Flechten über der Nase der Lausbub unter seinen Artgenossen. Haben tiki Gefühle? Ich finde Ja. Deshalb setze ich mich zu meinem Freund auf die trockene rote Erde und beklage mit ihm den radikalen Wandel seiner einstmals so beschaulichen Welt. Die Melancholie bleibt auch dann noch, als ich mich dem Kahlschlag zuwende, der wegen der Aussicht auf die Bucht von Hane stattfand. „Das nächste Mal findet sich hier die Endstation einer Gondelbahn“. Diese sarkastische Vorstellung verbiete ich mir umgehend, denn wer weiß, vielleicht ist Ua Hukas innovativer Bürgermeister Lichtle auf „Sendeempfang“ und findet die Idee sogar prima …
Auf dem Rückweg nach Atuona (Hiva Oa) besuchen wir Moes Freund Tuara‘e Peterano. Er ist Holzschnitzer und befindet sich in einem schon von weitem hörbarem Palaver mit zwei Frauen. Er zeigt sich über den Zuwachs an weiteren Gesprächspartnern hocherfreut. Tuara‘e stammt aus einer alteingesessenen Familie und ist ein beeindruckendes Mannsbild von wuchtigem Körperbau. Die Werkstatt Tuara‘es ist mit Wellblech überdacht und mit den Utensilien eines Holzschnitzers gefüllt. Darunter befinden sich auch zwei eben fertig gewordene Trommeln der traditionellen Art. Während der Unterhaltung arbeitet Tuara‘e eifrig an zwei tiki aus Sandelholz, wozu er das klassische Schnitzmesser benutzt. Auf meine Frage, ob man diese käuflich erwerben kann, schüttelt er lachend den Kopf und meint, er arbeite nur noch auf Bestellung. Die zwei tiki seien Sockel für Nachttischlampen und werden demnächst nach Tahiti geliefert. Als das Wort Tahiti fällt, wird die Politik zum zentralen Thema und erhitzt die Gemüter. In unmittelbarer Nähe des Ateliers, nur durch einen Bach getrennt, finden sich beeindruckende Zeugen der alten Kultur mit gut erhaltenen paepae, tiki, Petroglyphen und dem meterhohen tohua Atikua, bei dem die zusammengefügten Steinquader eine seltene Perfektion aufweisen. Die Begeisterung darüber wird von Tuara‘e verächtlich beiseite gewischt. Seiner Meinung nach ist Atikua der ideale Platz für eine Hühnerfarm und dabei bleibt er, Punktum! Tiki als Nachttischlampen und ein Kultplatz als Hühnerfarm – da fehlen die Worte. und ist Grund genug, bekümmert den Weg zu Pélagies Grab einzuschlagen …
Das dörfliche Bild Vaitahus (Tahuata) ist auch dieses Mal geprägt von einer leeren Straße, wütend kläffenden Promenadenmischungen und distanziert dreinblickenden Menschen. Dies ist verständlich, denn hinter dem friedlich erscheinenden Dorf verbirgt sich eine von Gewalt geprägte Vergangenheit, die auf dem Archipel ihresgleichen sucht und die die Menschen nie vergessen haben. An den letzten blutigen Aufstand vom 17. September 1842 erinnert ein Denkmal am Strand. Es ist den zwölf gefallenen französischen Soldaten gewidmet, die in heldenhaftem Kampf ihr Leben liessen. Das möchte niemand bezweifeln. Unerwähnt bleibt nur, dass dieser ungleiche Kampf von den ‘enana einen wesentlich höheren Blutzoll forderte. Nicht weit davon liegt der Platz, auf dem 1595 das Massaker der Spanier stattgefunden hatte. Direkt dahinter steht die Kirche. Sie wurde vom Vatikan gestiftet und trägt den Namen „Église Sainte Mère de Dieu“. Die Türen sind mit kunstvoll geschnitzten Eidechsen-Motiven verziert. Durch das prächtige Glasfenster dringen farbig gebündelte Sonnenstrahlen, die den Kirchenraum in warmes Licht hüllen. Dennoch dringt das milde Lächeln der „Madonna der Marquesas“ nicht ins Herz, denn zu große Ungerechtigkeiten sind unter dem Zeichen des Kreuzes auf dieser Insel geschehen und diese kann selbst ein edler Kirchenbau nicht aus der Welt schaffen. Bei all diesen zornigen Gedanken ermahne ich mich gleichzeitig, meine Antipathien nicht zu kultivieren und mich stattdessen auf den Besuch beim Knochenschnitzer Teiki Barsinas zu freuen. Er gilt in dieser Kunstgattung als unbestrittene Koryphäe. Seine Spezialität sind Knochen-tiki, die in vielerlei Art als Schmuck getragen werden. Als Material benutzt er Schweine-, Ziegen- oder Rinderknochen. Menschenknochen sind verboten, worüber das Auge des Gesetzes strengstens wacht. Das hindert aber die Händler im fernen Tahiti nicht daran, Teikis Meisterwerke als uralte Menschenknochen-Reliquien auszugeben und teuer zu verkaufen …
Die phallisch geformten Tuffstein- und Basaltpfeiler in der Bucht von Hanavave (Fatu Iva) geben Anlass zu dauerhaften Diskussionen. Hanavave heißt übersetzt „Bucht der Brandung“. Auf Französisch sollte der Ort ursprünglich den Namen „Baie des Verges“ besessen haben, was mit „Bucht der Ruten“ treffend übersetzt wäre. Dies soll, den Gerüchten nach, den sittlich strengen Missionaren nicht behagt haben. Sie schmuggelten das „i“ ein und aus den „Ruten“ wurden „Jungfrauen“. Andere meinen, diese Basaltsäulen ließen sich ebenso gut als Nonnen deuten. Denn Nonnen gehörten zu den ersten, die man nach der Okkupation zur Bekehrung der Heiden auf die Inseln entsandt hatte. Sie wurden als virikine (vierges) bezeichnet. In Atuona spricht man heute noch von te papua virikine, wenn die von Nonnen geführte Internatsschule gemeint ist. Auch wenn den enana eine Vorliebe für erotische Zweideutigkeiten nachgesagt wird, „Bai de Vierges/Verges“ ist eine rein französische Erfindung, gewissermaßen ein Fall von „double entendre“. „Bucht der Ruten“, „Bucht der Jungfrauen“ oder gar der „Nonnen“? Wer ernsthaft Klarheit will, der möge in den Annalen der Mission und der Kriegsmarine stöbern …
Während Te ‘Ei die Früchte für einen Fruchtsalat einsammelt, durchstreifen wir das tohua Te Pona‘o’uoho (Hakaui-Tal Nuku Hiva), das schon viele andere berühmte Besucher erlebt hat – darunter Johann Adam von Krusenstern und seine Wissenschaftler, David Porter, Abel Dupetit-Thouars, Herman Melville und Karl von den Steinen. Später kehren wir in die Gartenanlage von Te ‘Ei zurück, in der sie liebevoll Bougainvilleen, ti-Pflanzen, tia‘e-Bäumchen züchtet, die im Schatten der Kokospalmen prächtig gedeihen. Dazwischen finden sich Sammlungen von poi-Stößeln, steinernen ma-Mulden, verschiedenen tiki und Schleifsteinen. Die Idylle findet ihre Vollendung im überwältigenden Ausblick auf die grünen Felstürme, die weiter hinten im Tal aus dem dichten Regenwald in den Himmel streben und auf die das Licht in Strahlenbündeln fällt. Inzwischen ist der Fruchtsalat, den Te ‘Ei aus frisch gepflückten Papayas, Bananen, Mangos, Carambolas, Pampelmusen und Ananas zusammengestellt und mit dem Saft von Limonen gewürzt hat, fertig und wird genussvoll verzehrt. Nach dem köstlichen Schmaus ist dann leider die Zeit gekommen, den Rückweg anzutreten, bei dem wir von Te ‘Ei begleitet werden. Er führt wie am Morgen am tohua Te Pona‘o‘uoho entlang. Auf der Höhe von Tanieres Haus (Nachbar) bedeckt Zornesröte Te ‘Ei‘s Gesicht. Empört zeigt sie auf ein kleines, schmales Bretterhäuschen, das am Ende der Anlage steht. Sie schildert aufgebracht, dass sich damit Taniere am Stammplatz ihrer Familie zutiefst versündigen würde, weil er ausgerechnet darauf sein Plumpsklo aufgestellt habe. Leider sei der Kerl auch durch nichts zu bewegen, es wieder zu entfernen. „Ja, es ist immer das Gleiche, die einen sehen eine heilige Stätte und andere scheißen darauf“, entfährt es mir feixend. Dafür drückt sich der Archäologe gewählter aus und bringt den Vergleich mit der Akropolis, auf der man die bedürfnisbedingten „Unehrerbietigkeiten“ auch nicht so einfach hinter einem Bretterverschlag verrichten kann. Wie immer man es betrachtet, und dies mit aller Ernsthaftigkeit: es stimmt traurig, dass fortgesetzt Kulturdenkmäler zerstört werden, sei es aus Missachtung oder Gleichgültigkeit bzw. fehlendem Verantwortungsbewusstsein oder – wie in diesem Fall – aufgrund nachbarschaftlicher Animositäten …